"Wie fühlt es sich an?" Herz-Intelligenz im Interview
Und was der deutsche Dichter Goethe damit zu tun hat
Herzkohärenz und Herz-Raten-Variabilität sind mittlerweile gängige Schlagworte in Mediziner- und alternativen Kreisen. Wie aber sieht es mit Herz-Intelligenz aus? Wie können beispielsweise indigene Völker die exakten Zutaten für ihre teils hochkomplexen Tinkturen herausfinden, ohne dass tausende von ihnen bei den Versuchen, die richtige Mischung zu finden, in die ewigen Jagdgründe gehen (sterben)? Indem sie direkt mit den Pflanzen (und Tieren) kommunizieren.
Wie sieht es mit deinem eigenen Gefühlssinn, deiner Herz-Intelligenz aus?
Nachfolgend ist ein bearbeiteter Ausschnitt aus einem Interview, welches ich ursprünglich 2017 auf Englisch mit dem Autoren und Natur-Poeten Stephen Harrod Buhner geführt habe. Das vollständige Audio Interview ist am Ende des Artikels.
Stephen ist ein Pionier, der den Prozess der direkten Wahrnehmung und Kommunikation mit dem Herzen als erster moderner Autor beschrieben hat. Auch Johann Wolfgang von Goethe war ein großer Verfechter dieser Art von Intelligenz.
Interview Anfang
Christoph: Wenn wir vielleicht mit unseren „Zentren der Wahrnehmung“ beginnen könnten.
Stephen: Als die Vernunft während der Aufklärung aufkam, wurde es als eine Methode/Möglichkeit benutzt um mit der Welt in Kontakt zu treten. Es war eine Art Gegenpol zum unterdrückenden Dogmatismus der christlichen Kirche in der westlichen Welt. Die Vernunft sollte als ein anderer Zugang zur Welt dienen, der eine solide, nicht religiöse, Grundlage hatte.
Eine Methode auf die man sich berufen und die man entwickeln konnte, so fing es an. Aber zu der der Zeit, als das geschah, dachten die ursprünglichen Aufklärer keineswegs, dass die Vernunft von den anderen menschlichen Fähigkeiten, die wir alle haben, wie unsere Gefühle als Antwort unseres Herzens auf das was die Welt uns sagt, unsere Phantasie oder unser moralisches Gewissen, getrennt sein sollte.
All diese anderen Aspekte des Selbst wurden als integral/sehr wichtig betrachtet, und sie wollten nur die Vernunft als eine Art Gegenmittel zu ungeprüften Dogmen einsetzen. Und das war lange Zeit großartig, aber was im Laufe der Zeit geschah (bis heute), ist, im Laufe der Zeit haben die Rationalisten, die am fanatischsten waren, aktiv daran gearbeitet, jede andere menschliche Fähigkeit von der Ausübung dessen, was sie Vernunft nannten, zu trennen.
Das Problem ist, wenn man die Vernunft von allen anderen menschlichen Fähigkeiten losgelöst hat, beginnt es soziopathisch/krankhaft und unlogisch zu werden, weil die Vernunft selbst keinen moralischen Kompass hat. Und so kann man Wissenschaftler dazu bringen, die Gasöfen in Auschwitz zu bauen und keine moralischen Bedenken zu haben...
Menschen verüben auch massive ökologische Zerstörungen durch den Gebrauch der Vernunft ohne moralisches Empfinden.
Irgendwann aber beginnen die Menschen, sich gegen diesen wirklich unmenschlichen Missbrauch der Vernunft zu rebellieren, und sie beginnen, die Reaktion ihres Herzens auf das, was den Sinnen präsentiert wird, zu spüren.
Ich meine, es gibt nur sehr wenige von uns, die als Kinder nicht die Lebendigkeit der Welt gespürt haben, das Wunder der Welt. Unsere Pflanzen als lebende Wesen erlebt haben, die unsere Verwandten waren und ihre eigene Lebensgeschichte zu erzählen hatten.
Und dieses Gefühl des Wunders wird im Allgemeinen für die meisten Menschen zerstört, wenn sie durch das Schulsystem gehen.
Bei den Ökologen, besonders bei den Tiefenökologen, den Menschen, die eng mit der Natur zusammenarbeiten, gibt es eine Gefühlsbasis, dass sie eine Art Verletzung von etwas Gutem, Notwendigem und Lebendigem spüren. Etwas das lebendig ist und den Menschen etwas gibt, das wirklich geschützt werden muss.
Das ist es was ich meine, wir haben jetzt einen Paradigmenwechsel, weg der “Tyrannei der reinen Vernunft”, so wie sie sie definiert haben, hin zu etwas mehr. Der erste Schritt für diesen Wechsel ist, dass wir anfangen, auf das zu achten, was unser Gefühl uns sagt.
Wir alle sind schon einmal in ein Restaurant gegangen, in dem wir vorher noch nie waren, und wir haben innegehalten und gesagt:
„Dieser Ort fühlt sich komisch an, lass uns gehen.“
Und das ist es, was ich meine mit dem Gefühlssinn, mit der Reaktion des Herzens. Es sagt dir etwas Wichtiges über das, was ist.
Die zweite Sache ist die Wiederbelebung der Welt. Sobald wir die Welt betrachten und die Erde als Gaia, als ein lebendes Wesen betrachten, wird es sehr schwer, unachtsam zu sein.
Diese Dynamik der Wiederbelebung erzeugt ein Gefühl: Beziehung und Fürsorge.
Für mich sind also alle Pflanzen Lebewesen, die Respekt verdienen, genau wie menschliche Wesen. Bakterien sind auch Lebewesen.
Was also wiederhergestellt wird, ist ein Gefühl der Freundlichkeit mit allen Lebewesen, wo wir in einem gemeinsamen Rat der Wesen zusammensitzen. Das ist der Weg aus unserem Dilemma, aber es wird nicht ohne große Schwierigkeiten geschehen.
Christoph: Ich denke, es ist auch schwer, diese Gefühlsreaktion zu wecken, wenn man in der Stadt aufgewachsen ist und noch nie eine Pflanze oder einen Wald gesehen hat.
Stephen: Es ist wahr, dass der Gefühlssinn (des Herzens) durch Missbrauch und Vernachlässigung verkümmert, und nicht nur durch Missbrauch, sondern weil er von Rationalisten während des größten Teils unseres Lebens verunglimpft wird.
Wir sind also sehr verwirrt darüber, was es bedeutet, der Gefühlssinn. Aber man kann ihn häufig in zwei Bereichen finden.
Der häufigste ist einfach das ästhetische Empfinden. Es gibt keinen Stadtbewohner, der nicht schon einmal ein wirklich hässliches Gebäude gesehen hat, das ihm nicht gefiel, und gleichzeitig Gebäude gesehen hat, die eine Art leuchtenden, wundersamen Aspekt besaßen. Ein schöner Aspekt, der sie irgendwie berührt. Das ist wirklich der Gefühlssinn, der auf das reagiert, was die Außenwelt uns präsentiert.
Menschen, die Welpen und Kätzchen lieben, wissen zweifelsfrei, dass es bei diesem Austausch eine Berührung gibt, eine liebevolle Berührung zwischen ihnen und ihren Haustieren. Dass auch die Haustiere das erkennen... und es gibt diesen Moment, den die alten Griechen einen „Seelenaustausch“ genannt haben.
Es gibt diesen Moment, in dem man sich zum ersten Mal sieht und einfach tief einatmet und "oh" sagt.. und dann geht etwas Energie aus deinem Körper in den Welpen und etwas Energie kommt aus dem Welpen in dich... und es fühlt sich auf eine bestimmte Weise an... und dann läuft der Welpe rüber und ihr fangt an, euch zu berühren und zu umarmen.
Du weißt, dass das eine der wichtigsten Erfahrungen ist, die ein Mensch machen kann. Aber in der englischen Sprache gibt es dafür kein Wort!
Und in sehr wenigen anderen Sprachen ist es anerkannt.
Die Griechen aber haben das Wort Aisthesis, das diesen Moment der den Moment der Berührung und des Austauschs beschreibt. Und es ist die Wurzel unseres Wortes Ästhetik.
Es ist also immer noch etwas davon vorhanden.
Wenn die meisten Menschen in der westlichen Welt an die Kolonialisierung der Länder der Dritten Welt denken, ist eines der Dinge, die sie nicht erkennen dass wir, die wir in der ersten Welt aufgewachsen sind, am längsten kolonialisiert worden sind.
Und dass wir uns um diese Kolonialisierung kümmern sollten, darauf reagieren und die Kolonialisierung unserer Innenwelt (durch den Verstand) verändern. Der Anfang ist die Rückgewinnung des Gefühls.
Ich habe vor einigen Jahren ein großartiges Schild gesehen, das ein französischer Demonstrant trug. Auf dem Schild stand:
„Der erste Akt des Ungehorsams ist Kontemplation."
Ich liebe das. Aber wenn das Gefühl wirklich reagiert, wenn man anfängt, es zurückzufordern, ist das, was sofort passiert, eine Art Kontemplation. Denn du musst anfangen herauszufinden, was dir deine Gefühlsreaktion sagt.
Und anfangen, es zu erziehen, ihm zu erlauben, so reif zu werden wie die Denkprozesse.
Denkprozesse, in denen du ausgebildet wurdest. Das dauert lange und erfordert die Bereitschaft zu wissen, dass die Welt selbst in diesem Moment zeigt, dass etwas falsch ist und geändert werden muss.
Im Grunde geht man zurück in die Schule und lässt zu, dass die Welt beginnt, einen über sich selbst zu lehren. Über sich selbst zu lehren, durch ihren Einfluss auf deine Empfindsamkeit/Gefühlssinn.
Es benötigt Demut, um das zu tun, aber ja, die Belohnungen sind groß:
Denn mit dem Gefühl der Isolation, der Entfremdung und der Depression, haben viele Menschen in der westlichen Welt zu kämpfen haben.
Je mehr der Gefühlssinn entwickelt wird, desto mehr ist man mit der Welt verbunden und desto weniger fühlt man sich allein und desto weniger deprimiert.
Christoph: Ich habe in der letzten Woche wieder dein Buch "Ensouling Language" gelesen und bin so immer mehr in den Gefühlssinn eingetaucht.
Also bin ich immer mehr in das Gefühl eingetaucht und es fühlt sich an, als wenn ich im Raum bin und dann lasse ich mich berühren von den Bedeutungen und den Gefühlen der Person und was auch immer sonst noch im Raum ist. Dann ist es so als ob ich weniger distanziert bin. Ich mache mehr einen Schritt in den Raum hinein, um dort zu sein.
Stephen: Das ist wunderbar, dass du das tust und dass du bemerkst, dass es buchstäblich, sobald du anfängst, den Gefühlssinn wiederzubeleben, präsenter und zentrierter wirst im Körper. Auf eine Art und Weise glücklicher.
Ich liebe die Worte des amerikanischen Dichters Robert Bly, der sagte, dass die Menschen isoliert in ihrem eigenen Haus sind. Sie schauen von Zeit zu Zeit aus dem Fenster auf eine eine Welt, mit der sie keinen sinnvollen Kontakt haben können, weil sie die Seele vom Raben, von der Eule, vom Stein, von der gesamten Außenwelt entfernt haben.
Und diese Rückgewinnung des Gefühlssinns erlaubt es der Person, außerhalb ihres eigenen Hauses zu gehen und das Gefühl der Isolation beginnt sofort zu verschwinden und das ist es, was wir dann tun, wenn wir die ökologische Wunde heilen... die ökologischen Wunde in unserem eigenen Herzen, in unserer eigenen Psyche...
Und natürlich beginnt es mit einem einzelnen Schritt, aber die Reise dieses Prozesses der Umerziehung der Seele endet eigentlich nie, aber deine Beschreibung ist perfekt, denn sobald man das tut, wird man… das erste was passiert ist, dass die Dissoziation beginnt sich abzuschwächen.
Christoph: Und wenn du davon sprichst, aus dem Haus zu gehen, kann man auch Momente von „Duende“ erleben.
Stephen: Richtig. Der große Dichter Garcia Lorca hat den Begriff Duende geprägt. Es gibt diese Momente, die den rationalen Verstand ausschalten, diese Momente von ungeheurem Gefühl. Er sprach davon, wenn er große Musiker hört.
Musikern zuhören, oder jemandem zuhören, der großartige Poesie oder Sprache spricht. Und weißt du, Sprache ist nur ein Behälter für Bedeutung, sie ist nichts an und für sich und unsere Aufgabe als Schriftsteller ist es, so viel Bedeutung wie möglich in die Sprache zu bringen.
Damit, wenn ein anderer menschlicher Geist sie berührt, die Oberflächenspannung des Wortes aufbricht und die große Bedeutung auf die andere Person überschwappt, die in diesem Moment in die Erfahrung der Bedeutung eintaucht, die ihn berührt hat.
Und im stärksten Moment fängt es fast an, in einem selbst nachzuhallen und für einen Moment hört der plappernde Verstand einfach auf. Man ist gefangen in dieser massiven Erfahrung und Kontemplation dieser großen Bedeutung, die dich berührt hat.
Dasselbe geschieht, wenn wir durch die Welt wandern, wenn wir einmal die Dissoziation hinter uns lassen, gehen wir hinaus und wenn wir Glück haben, gehen wir in einen Wald und wir stolpern über einen großen, altgewachsenen Baum. Und für einen Moment… und wir einen Blick darauf erhaschen, drehen wir uns um und sind gefangen im Staunen und wir atmen ein.
Wie die Griechen sagten, gibt es diesen Moment des Einatmens, der Inspiration.
Für die alten Athener kam die Inspiration aus der Welt selbst und wurde immer von einem solchen Einatmen begleitet, und das ist ein Moment des Duende aus der natürlichen Welt, und als menschliche Künstler haben wir alle damit zu kämpfen, diesen Moment in Sprache umzusetzen.
Diesen Moment in der Sprache zu erschaffen. Ob wir Schriftsteller und Dichter sind Gemälde malen, oder Musik machen, diese Erfahrung von Duende ist eine der bewegendsten aller menschlichen Erfahrungen.
Es ist viel angenehmer als von einem Tag zum anderen zu taumeln, weil es eine der größten Erfahrungen ist, die ein Mensch haben kann. Und die Welt ist voll davon, also warum nicht ein Entdecker werden und sie suchen.
Und wenn du dann diesen Moment der Berührung hast, ist das wie eine große Öffnung und man hat ein neues Paar Augen, mit dem man die Welt sehen kann.
Und das ist eines der Dinge, über die der große deutsche Dichter Goethe sprach. Er sagte:
"Alles, was richtig gesehen wird, erschließt eine neue Fakultät der Seele."
Und was in diesen Momenten passiert, wenn wir von einer solchen Bedeutung berührt werden, dann entwickelt sich immer ein neues Organ der Wahrnehmung in uns. Wir beginnen zu erkennen, dass die wichtigsten Dinge im Leben unsichtbar sind.
Dass es einen anderen Teil des Selbst braucht, um sie wahrzunehmen und mit ihnen zu arbeiten. Der rationale Verstand ist buchstabengetreu, er ist sehr linear. Er kann viele der wichtigsten Dinge, die im Leben passieren, nicht sehen.
Er versteht die Liebe nicht, weil er keinen Gefühlssinn hat. Er versteht die Berührung von Duende nicht, weil er nicht in der Lage ist, diese Momente zu erleben.
Der rationale Verstand ist ein großartiger Diener, aber er ist der denkbar schlechteste Herr, den der Mensch haben kann.
Der große englische Dichter Keats sagte:
"Die Welt ist der Ort, an dem die Seele gemacht wird."
Und in der Tat ist es genau das, was passiert, wenn wir uns von einem Moment von Duende zum nächsten bewegen. Wir beginnen auf diese Weise, von diesen Momenten, geformt zu werden. Wir werden zu unserem einzigartigen Selbst.
Unsere Seele wird lebendig und im Wesentlichen werden wir anders als wir waren, aber viel mehr als wir waren, denn diese Dinge aus der Wildnis der Welt, diese Intelligenzen leben jetzt in uns, und wenn das einmal passiert ist, kann es nie vergessen werden.
Wir werden zu ihrer Essenz… wir werden von dem, was wir erobert haben, selbst erobert. So wie es sein sollte.
Christoph: Ich hatte in den letzten Wochen auch den Gedanken, dass Duende für einen wie das Gegenteil von Trauma und das Gegengift zum Trauma ist.
Stephen: Da die Menschen geschult werden, all diese anderen Fähigkeiten des Selbst durch eine Art Beschämungsprozess und Abwertung zu vergessen, werden wir immer schmaler und schmaler. Unsere 360° (in alle Richtungen) leuchtende Persönlichkeit, mit der wir geboren wurden, beginnt zu schrumpfen, bis kaum noch etwas von uns übrig ist. Und so kommt es zu dieser Depression und in diesem Prozess erleben wir alle ein Trauma.
Wir alle werden irgendwie von anderen Menschen verletzt, das Trauma mag für einige weniger und für andere viel größer sein, aber es erzeugt eine Wunde im Selbst. Und was danach wichtig wird, ist die Geschichte, in der wir gefangen sind.
Eine Art rationale Erzählschleife, die einen psychologischen Bezug hat, und die meisten Traumata lassen sich aber nicht durch eine rein psychologische Orientierung lösen. Je schlimmer das Trauma, desto weniger kann eine rationale Erklärung helfen. Aber sobald wir in die Welt gehen, beginnen wir, in den Ort der Mythen zu gehen. Wir gehen in die Welt der Imagination und zu diesen Momenten des Duende. Diese sind eine direkte Kommunikation von den Intelligenzen, mit denen wir umgeben sind. Und die Dinge, die uns berühren, tun dies aus einem Grund.
Warum sollten wir uns für diese Straße entscheiden und nicht für die andere? Warum sollten wir in diesem Teil des Waldes leben und nicht in einem anderen?
Es ist, weil ein tiefer Teil von uns weiß, dass wir etwas brauchen. Dass wir etwas brauchen, zu dem uns diese bestimmten Schritte führen werden, und, weißt du... eine Sache, die nach einer Weile passiert, ist dieses tiefe Vertrauen in den Seelenbildungsprozess, an dem wir beteiligt dann beteiligt sind..
Und du hast recht... wenn diese Dinge erst einmal da sind, wirken sie dem Trauma nicht nur entgegen, sondern sie liefern eine mythologische Erklärung dafür, warum das Trauma da war und warum es passieren musste, damit wir das werden konnten, was wir sind.
Das Trauma ist dann nicht mehr eine Wunde oder ein Schaden. Und unsere Struktur, die eine grundlegende Schwäche erzeugt, wird zu einer wichtigen Quelle der Stärke und unseres Lebenswerks. Es ist buchstäblich die Berührung mit der Welt.
Du hast recht, es ist buchstäblich das Gegenmittel gegen die depressive Verengung der menschlichen Erfahrung, mit der die meisten von uns aufgewachsen sind
Christoph: Wenn wir von dieser verengten menschlichen Erfahrung sprechen, kommt mir die Vorstellungskraft in den Sinn, weil sie grenzenlos ist.
Stephen: Die meisten Menschen, denen dies (Fantasie/Vorstellungskraft) beigebracht wurde, würden sagen, dass es sich um eine Einbildung des Geistes handelt, des Verstandes... die nichts mit der Realität zu tun hat.
Aber in der Entwicklung des Gefühlssinns, was Goethe Herzenswahrnehmung nannte, diese Fähigkeit, die Welt zu fühlen und durch das Herz zu denken, und dass das Herz seine eigene Vorstellungskraft hat... dass es das anzapfen kann, was viele Menschen als die Vorstellungswelt bezeichnen.
Der große islamische Gelehrte Henry Corbin, hat tatsächlich darüber gesprochen. Goethe hat ausführlich darüber gesprochen, und viele andere auch. Wenn wir uns der natürlichen Welt nähern, indem wir durch unser Herz denken, anstatt mit unserem Verstand...
Ich muss hier eine Bemerkung einfügen:
Den meisten Menschen in der westlichen Welt wurde beigebracht, dass das Herz eine Art mechanische Pumpe ist und hat vielleicht ein paar Ansätze von Emotionen und so weiter...
Aber das ist ein Teil der Kolonisierung von uns selbst, der Verunglimpfung unserer Menschlichkeit.
Aber in Wahrheit kann das Herz hochentwickelte Überlegungen anstellen und ist zu einem Denken fähig, welches das Gehirn bei weitem übersteigt. Wenn man die Geschichten der großen Künstler und Wissenschaftler liest, sagen sie alle, dass sie so zu ihrem Verständnis der Welt gekommen sind. Nicht durch das Gehirn, das lediglich eine Art organisches Rechenwerkzeug ist.
Wenn wir hinausgehen und anfangen, diese Momente des Duende und der Berührung der Welt mit uns zu erleben, wenn unsere Fähigkeit, mit dem Herzen zu denken, immer ausgefeilter wird, dann gibt es diese gewaltigen Momente, in denen wir uns durch das imaginäre Empfinden des Herzens der Verbindungen zwischen vermeintlich getrennten Dingen bewusst werden.
Selbst Crick und Watson, als sie über das Verständnis der DNA und der Doppelhelix sprachen, sagten, es sei ihnen im Traum gekommen. Sie hätten nur gedacht und plötzlich tauchte dieser Traum auf, in dem sie es sahen und die komplette Gestalt (Erscheinungsbild) der Sache war einfach da.
Und das ist es, was das imaginäre Empfinden des Herzens, die Vorstellungskraft des Herzens tut. Sie gibt uns die Gestalt (ein ganzes Bild auf einmal), die vom rationalen Verstand nicht auf lineare Schritte reduziert werden kann.
Einstein sprach immer wieder davon.
Christoph: Okay, und um es für die Menschen, die zuhören, praktisch zu erklären… es ist ein bisschen wie eine Reise, die man unternimmt mit dem Gefühlssinn und der “Wiederbenutzung” des Herzens. Zuerst geht man vielleicht raus und schaut sich etwas an und fragt sich:
“Wie fühlt es sich an?”
Und dann bleibt man längere Zeit dabei und geht tiefer.
Stephen: Richtig, ich meine, das ist genau so. Es ist seltsam, dass es viele Wege gibt, die wir nutzen können, unsere innere Welt und unsere Beziehung zur äußeren Welt zu verändern. Der allererste Schritt, der allererste Moment des Ungehorsams besteht darin, einfach innezuhalten und zu fragen:
"Wie fühlt sich das an?"
Weißt du, ich benutze:
"Wie fühlt es sich an?"
Weil diese Formulierung für mich am besten funktioniert, aber ich habe wahrscheinlich 20 Jahre meines Lebens damit verbracht, mich jeden Tag für viele Stunden, überall wo ich hinging, zu fragen:
"Wie fühlt es sich an?"
"Wie fühlt sich dieser Bleistift an?“
"Wie fühlt sich dieses Buch an?"
"Wie fühlt sich die Geschichte an, die ich lese?"
"Wie fühlt sich dieser Baum an?"
"Wie fühlt sich dieses Feld an?"
Unser Gefühlssinn hat die Funktion, uns Zugang zu Bedeutung zu verschaffen. Wir alle haben schon einmal die Erfahrung gemacht, wenn wir zu unserem Ehepartner nach Hause kommen und sagen:
"Hallo Schatz, wie geht es dir?"
Und unser Ehepartner sagt:
"Gut!"
Nun, in diesem Moment wissen wir, dass es ihr oder ihm nicht gut geht. Wenn wir diese Kommunikation also oberflächlich betrachten (nur auf die gesprochenen Worte, aber nicht auf die Bedeutung darunter achten), werden wir bald einen großen Streit haben. Denn Form und die Bedeutung innerhalb der Form selbst, haben oft nur sehr wenig Beziehung zueinander.
Wir können einen großen Baum in einem Wald sehen, von dem unser rationaler Verstand sagt, dass er bemerkenswert ist, aber unsere Gefühle sagen uns, dass etwas nicht stimmt.
Es gibt also eine (unsichtbare) Bedeutung, die wir wahrnehmen, die uns wissen lässt, dass da etwas nicht stimmt. Oder wir gehen auf eine Party und wissen, da sind all diese Leute und unser rationaler Verstand sagt uns, dass es ein wunderbares Ereignis ist, aber tief in uns ist das Gefühl das wir bekommen:
“An diesem Ort stimmt etwas nicht.”
Und diese Bedeutung, dieses Gefühl, ist das erste das uns sagt, dass es etwas gibt, dem wir Aufmerksamkeit schenken müssen. Und es ist wirklich unsere Kontemplation danach, dass wir damit sitzen und beginnen, die Geheimnisse der Bedeutung zu entschlüsseln, was uns einen tieferen Zugang zur Welt ermöglicht.
Es ist sehr einfach, ich frage einfach:
Wie fühlt es sich an?
Ahh, es fühlt sich so an. Oft gibt es kein Wort, um dieses Gefühl zu beschreiben, denn Gefühle sind so vielfältig und so subtil wie die tausenden von Farben, die Künstler in ihrer Palette haben und langsam beginnen wir, diese Bedeutungen zu entschlüsseln, und das geht nur durch Kontemplation.
Christoph: Dann wollte ich auch auf das analoge Denken oder die Gedanken eingehen, als Werkzeug, um mit all dem zu arbeiten.
Stephen: Richtig, analoges Denken ist das, was anfängt wenn man lernt, mit dem Herzen zu denken. Also der erste Schritt ist es "Wie fühlt es sich an?" zu fragen und dann Zeit und Kontemplation mit der Bedeutung zu verbringen.
Dann beginnt man, sich in eine andere Art der Wahrnehmung und des Denkens zu vertiefen. Und je mehr man das tut, desto natürlicher wird es.
Und dann gibt es diese Momente, die oft schon sehr früh auftreten, so wie beim ersten Fahrradfahren, wo man den Gleichgewichtspunkt erreicht und dann schreit: "Ich habe den Gleichgewichtspunkt erreicht!"
Und dann stürzt man vom Rad, weil man sich nicht mehr konzentriert. Und langsam kommt man zu diesem Gleichgewichtspunkt, wo man in dieser Art des Denkens oder Wahrnehmens bleibt. Und dann bleibt man einfach drin und fährt weiter, denn das Interessante...
Das Interessante an der Erfahrung von Bedeutung ist, wenn man eine Bedeutung durch seinen Gefühlssinn erfährt und in einer Periode der Kontemplation dabei bleibt, passiert das...
Plötzlich, wie aus dem Nichts, wird die Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt.
Automatisch auf etwas anderes gelenkt, das irgendwie mit der Sache, die dich berührt hat, verbunden ist. Als ob es einen goldenen Faden der Bedeutung gibt, der uns vom einem zum anderen führt.
Und so erlaubst du deiner Wahrnehmung, diesem Faden zu folgen, zu der anderen Sache. Und es ist fast ein augenblicklicher Sprung, weißt du, du gehst hinüber zu der anderen Sache und sie hat eine andere Art von Gefühl, eine andere Art von Bedeutung und du bleibst eine Weile dabei und dann taucht etwas anderes von selbst in deinem Bewusstsein auf und du folgst dem.
Die Sache ist die, dass all diese Dinge, auch wenn sie dem rationalen Verstand extrem unzusammenhängend erscheinen, in diesem tieferen Sinn miteinander verbunden sind.
Und wenn du anfängst, ihnen zu folgen, eines zum nächsten, zum nächsten, zum nächsten, dann geschieht Folgendes:
Eine Art Verständnis für die wesentliche Natur dieser goldenen Fäden der Verbindung und man findet sich inmitten des analogen Denkens, denn es ist nicht einfach, dies auf einen linearen Prozess zu reduzieren.
Man ist in eine Art nichtlineares, ganzheitliches, wahrnehmendes Denken und Fühlen verwickelt.
Und sobald man das tut, beginnt man ein Verständnis der Welt zu haben, das sich scheinbar von selbst einstellt, und das ist die Art von Wissenschaft, von der Einstein sprach, oder Barbara McClintock, oder Luther Burbank oder viele der der Leute, die ich in meinen Büchern erwähnt habe.
Und das Schöne daran ist, dass es eine Art angenehme Ekstase in der Seele hervorruft, auf diese Weise zu denken, zu verstehen, dass es kein Monolog ist, sondern eher ein Dialog zwischen dem Selbst und der Welt, in dem all dieses Verständnis scheinbar von selbst entsteht, aus eigenem Antrieb.
Ein Teil des Problems unserer westlichen Orientierung ist, dass wir in das heldenhafte verliebt sind, aber oft sind es die einfachsten Dinge, die uns zu uns selbst führen.
Ich habe im Laufe meines Lebens so viele Reden von Menschen gehört, die ich für bemerkenswert hielt. Ich erinnere mich, dass ich jemanden reden hörte, der mich sehr beeindruckt hat, wie Elizabeth Kübler-Ross, oder Joan Halifax, oder Buckminster Fuller. Und sie sprachen und ich hörte zu und plötzlich war da dieser Ausdruck auf ihrem Gesicht den ich nicht verstand.
Irgendwie sagte ein Teil von mir, das es wichtig ist. Es war ein Gefühl, und ich habe manchmal viele Jahre damit verbracht, darüber nachzudenken.
Ein anderes Mal ging ich im Wald spazieren und aus irgendeinem Grund schien ein bestimmter Ton oder eine bestimmte Pflanze eine andere Qualität zu haben, eine ganz andere Qualität als die anderen um sie herum.
Für mich waren die Pflanzen das Wichtigste, was mich in das Herz der Welt geführt hat, so wie sie es für Goethe, für Barbara McClintock, für alle Menschen tun.
Und aus irgendeinem Grund würde sich eine Pflanze von den anderen abheben und meine Aufmerksamkeit auf sie lenken.
Das ist das, was die alten Griechen notitia nannten.
notitia; das aufmerksame Wahrnehmen der Seele.
Und so würde ich dieser Sache erlauben, mich ihr zuzuwenden. Ich würde mich ihr zuwenden, alles andere aus meinem Bewusstsein verschwinden lassen und konzentrierte mich darauf und begann zuzulassen, dass das Gefühl, das diese Sache gab… mein Herz darauf reagierte. Ich hatte dieses Gefühl der Dringlichkeit in mir… ich erlaubte, dass es stärker und stärker wurde und fragte mich, warum mich diese Sache so viel tiefer berührt hat als all die anderen Dinge.
Und dann würde dieser Prozess stattfinden. Das ist der erste Schritt, der dich zu dir selbst führt. Es ist der Prozess der Seelenbildung, der dich zu dir selbst führt.
Christoph: Ich sehe, dass sich heutzutage auch viele Menschen zur Spiritualität hingezogen fühlen, aber ich weiß nicht, ob es auch möglich ist, dass die Spiritualität Menschen von ihrem Gefühlssinn distanziert`?
Stephen: Nun, Religion ist oft vom Gefühlssinn abgekoppelt, Spiritualität hingegen ist oft mit dem Gefühlssinn verbunden. Die mächtigsten religiösen Bewegungen in der Geschichte sind in der Regel aus diesen Momenten der Epiphanie oder Duende hervorgegangen.
Die Quelle der Visionen kommt wirklich aus der Welt selbst. Der Welt selbst, von außen, von Unsichtbaren, die uns berühren und die uns eine Richtung für unser Leben geben.
Wenn man sich die indigenen Kulturen auf der ganze Welt rund um den Globus anschaut, wird man feststellen, dass visionäre Erfahrungen ein normaler Teil von Kulturen sind. Kulturen, die die Welt schon immer als lebendig und bewusst erlebt haben.
Und es gibt eine natürliche polytheistische Spiritualität, die aus diesen Erfahrungen hervorgeht, denn was der Gefühlssinn sofort erkennt ist, dass alles in der Welt beseelt ist, dass alle Phänomene beseelt sind. Alle Phänomene können auf diese Weise kommunizieren und den Menschen berühren.
Und so gibt es diese enorme Ehrfurcht vor dem Leben, nicht nur vor dem Leben da oben, sondern vor dem Selbst, denn unser Körper wird oft herabgewürdigt und abgewertet.. es ist eine Art Ding, das den einzigen wichtigen Teil von uns um unser Gehirn herum trägt.
Weißt du, viele Menschen sind ziemlich missbräuchlich zu ihrem eigenen Körper, so wie sie die physische Welt außerhalb ihres Körpers auch nicht achten. Aber sobald man damit anfängt (den Gefühlssinn wieder zu benutzen), gibt es einen sehr natürlichen spirituellen Sinn, der aufzutauchen beginnt, der nicht grandios sein muss.
Es ist einfach die Art, wie die Welt funktioniert und es gibt eine natürliche ökologische Sensibilität die sich einstellt, wenn man sich dessen bewusst ist.
Viele Religionen der westlichen Welt stehen dem Sinn eines belebten Universums ziemlich feindlich gegenüber, weil ein natürliches polytheistisches Empfinden auftaucht, das in Konflikt kommt mit diesen monozentrischen Glaubensvorstellungen der jüdisch-christlich-islamischen Troika oder der Wissenschaft, die an und für sich eine monozentrische religiöse Form ist.
Es entsteht also eine echte Spiritualität, die meiner Meinung nach von Natur aus eher assoziativ als dissoziativ ist.
Ende des Interview Ausschnitts
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Die verborgene Weisheit der Natur: Unsere Welt verstehen mit der Intelligenz des Herzens (in diesem Buch sind viele Zitate Goethe's zur Herz-Intelligenz)
Plant Intelligence and the Imaginal Realm: Beyond the Doors of Perception into the Dreaming of Earth
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Hier das ganze Interview mit Stephen auf Englisch.
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